Kommt es in deiner Klasse auch immer wieder zu Unterrichtsstörungen und Streit? Hast du „schwierige“ Schüler:innen, mit denen du immer wieder in Konflikte gerätst? Und möchtest du darauf nicht immer nur genervt mit den immer gleichen Belohnungs- und Bestrafungssystemen reagieren?
Dann ist es wichtig, dass du die Ursachen für diese Unterrichtsstörungen verstehst!
Viele Ansätze zur Vermeidung von Unterrichtsstörungen konzentrieren sich auf Verhaltenstrainings oder schulische Interventionen, um die Schüler:innen zu disziplinieren.
Ein anderer Ansatz, der sich auf das Verständnis der Ursachen von Unterrichtsstörungen konzentriert, ist die Psychoanalytische Pädagogik. Hier wird die tiefere psychologische Dynamik betrachtet, die das Verhalten der Schüler:innen beeinflusst. Die Psychoanalytische Pädagogik untersucht die zugrunde liegenden unbewussten Konflikte und Emotionen und trägt so dazu bei, die Ursachen von Unterrichtsstörungen zu verstehen und zu lösen.
Lies bis zum Ende, wenn du wissen willst, wie dir die verstehende Haltung der Psychoanalytischen Pädagogik und die Anerkennung unbewusster Prozesse im Klassenzimmer dabei helfen kann, die Ursache für Unterrichtsstörungen zu erkennen. So kannst du störendes Verhalten von Schüler:innen als eine soziale Mitteilung lesen, durch deren Bedeutung das unkooperative Verhalten des Kindes subjektiv sinnvoll wird.
Was ist Psychoanalytische Pädagogik?
„Nur an einem Thema kann ich nicht so leicht vorbeigehen […]
Sigmund Freud 1933
es ist so überaus wichtig, so reich an Hoffnung für die Zukunft,
vielleicht das Wichtigste von allem, was die Analyse betreibt.
Ich meine die Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik,
die Erziehung einer ganzen Generation.“
Die Psychoanalytische Pädagogik ist ein pädagogischer Ansatz, der auf den Theorien und Konzepten der Psychoanalyse basiert.
Was Pädagogik ist, weißt du natürlich! Aber was war nochmal genau Psychoanalyse?
Grundvoraussetzung der Psychoanalyse – und der Unterschied zu allen anderen psychologischen Schulen – ist die Annahme von der Existenz des Unbewussten.
Der Begriff des Unbewussten geht auf Sigmund Freud zurück. Der schrieb vor ca. 120 Jahren, dass es „seelische Dinge im Menschen gibt, die er weiß ohne zu wissen, dass er sie weiß“. Mit dieser Annahme begründete er die Psychoanalyse oder auch die „Lehre des Unbewussten“. In den letzten hundert Jahren hat sich diese Theorie zu Konzepten mit auch heute noch hoher Aktualität weiterentwickelt und ist grundlegend für die Psychoanalytische Pädagogik.
Das Unbewusste – topografisches Modell von Freud
Bestimmt hast du schon mal von Freuds Strukturmodell gehört – das war das mit Es, Ich und Über-Ich. Darum soll es aber heute nicht gehen…
Denn schon davor hatte Freud ein anderes Modell der Psyche entwickelt: Das topographische Modell. Das besteht aus dem Unbewussten, dem Vorbewussten und dem Bewussten. Diese topischen Modelle werden auch Eisbergmodelle genannt. Warum, sieht man hier:

Mit diesem Modell wollte Freud die Existenz und Wirkungsweise unbewusster seelischer Inhalte beschreiben und hat dafür drei Stufen des Bewusstseins entwickelt:
Das Bewusste

Das Bewusste stellt die im Moment bewusst erfassten Wahrnehmungen und Gedanken dar. Es macht nur einen Bruchteil unseres Erlebens und Denkens aus – es ist also nur die Spitze des Eisbergs.
Das Vorbewusste
Alles was sich im Vorbewussten befindet, ist noch nicht bewusst, aber bewusstseinsfähig.
Das Vorbewusste umfasst Erinnerungen und Wissen, das du aktiv in einer bestimmten Situation aufrufen kannst. Sonst ist es uns aber nicht bewusst. Ein gutes Beispiel dafür sind zum Beispiel Liedtexte oder Gedichte, die du selber mal in der Grundschule auswendig lernen musstest und die du von irgendwo tief drinnen wieder hervorgeholen kannst.
So einfach ist das mit dem Unbewussten nicht:

Das Unbewusste
Wie schon gesagt, handelt es sich bei dem Unbewussten um die Grundannahme der Psychoanalyse. Das heißt, die Psychoanalyse geht davon aus, dass es unbewusste psychische Inhalte gibt und dass sie auf uns einwirken. Diese unbewussten psychischen Inhalte können z.B. unangenehme Erinnerungen, bedrohliche Erfahrungen oder unerlaubte Triebe sein. Meist stammen die noch aus der frühen Kindheit.
Denen ist der Zugang zum System Vorbewusst-Bewusst durch Verdrängung verwehrt und der Mensch wehrt sich erheblich gegen die Aufnahme dieser Inhalte in das Bewusste. Manchmal lässt es sich aber erkennen, z.B. an Fehlleistungen (wer kennt nicht den Freudschen Versprecher?), Träumen oder auch in Witzen.
Etwas Triebhaftes – also etwas, was sonst nicht erlaubt ist – kann in einer solch verschobenen Form zum Ausdruck kommen. Meist merkt man es selber nicht…
Grundsätzlich versuchen aber auch die verdrängten Wünsche ins Bewusstsein zu gelangen, um dort befriedigt zu werden. Dafür müssten sie eine Abwehrschranke, die sogenannte Zensur überwinden. Hier wird überprüft, ob es sich um tabuisierte Inhalte handelt, die bei dem entsprechenden Menschen mit unangenehmen Gefühlen verknüpft sind und vor denen er sich schützten möchte – es erfolgt quasi ein Abgleich mit der Realität, besonders mit der sozialen Realität (Ist das peinlich? Werde ich ausgestoßen, abgelehnt oder abgewertet?).

Bestehen sie die Prüfung, dürfen sie weiter ins Vorbewusste.
Werden sie aber als zu gefährlich eingestuft, müssen sie im Unbewussten bleiben.
Die Erinnerungen und Triebe sind jedoch keinesfalls vergessen, sondern können das Verhalten des Menschen in großem Maße beeinflussen. Sie verschaffen sich in Form von Symptomen, Träumen oder Phantasien Aufmerksamkeit und beeinflussen auf diese Weise unser tägliches Erleben und Selbsterleben.
In der psychoanalytischen Theorie geht man also davon aus, dass die Motive menschlichen Verhaltens, Fühlens und Denkens größtenteils unbewusst sind. Entwickelt haben sich diese Motive in den ersten Bindungserfahrungen während der frühen Kindheit.
So viel erstmal zur Theorie des Unbewussten! Das war jetzt eine sehr verdichtete Darstellung, wenn ihr noch Fragen habt, dann schreibt die gerne in die Kommentare! Hier könnt ihr alles auch noch mal als Video anschauen:
Unbewusste Prozesse im Klassenzimmer
Aber wie hilft uns dieses Wissen jetzt dabei, die Ursache für Unterrichtsstörungen in unserem Schulalltag zu erkennen?
Wichtig festzuhalten ist, dass unser Verhalten nicht nur von bewussten Absichten, sondern auch – oder sogar vor allem – von unbewussten oder unbewusst gewordenen Erfahrungen, Wünschen und Ängsten bestimmt wird.
Das Unbewusste beeinflusst so fast alle Bereiche des Lebens, aber besonders stark zeigt es sich in der sozialen Inszenierung. So nennt man das unbewusste Gestalten von zwischenmenschlichen Beziehungen. Z.B. zwischen einem Kind und seinen Mitschüler:innen oder seinen LehrKräften. Bei Kindern kann man z.B. häufig beobachten, dass sie es nicht schaffen mit einem positiven Ausgang – z.B. dem gemeinsamen Spiel – mit einem anderen Kind in Kontakt zu kommen. Anstatt zu fragen, ob es mitspielen darf, nimmt es dem anderen Kind die Mütze weg oder bewirft es mit Sand. Die darauffolgende Ablehnung und Zurückweisung sind dem Kind aus früheren Beziehungen bekannt, bestätigen sein Selbstbild und führen so auf absurde Weise zu einem Gefühl von innerer Stabilität und kohärenter Beziehungserfahrung. Die ständigen Wiederholungen dieser negativen Kontaktaufnahme lässt außerdem vermuten, dass das Kind den Wunsch verspürt, endlich eine andere Antwort zu bekommen.
Das Beispiel soll deutlich machen, dass die zunächst einfach als störend oder aggressiv empfundenen Verhaltensweisen Ausdruck einer innerpsychischen Konfliktlösestrategie des Kindes sein können mit denen es versucht, sich vor beängstigenden sozialen Anforderungen zu schützen.
Zwei weitere Konzepte der Psychoanalyse
Zwei weitere zentrale Konzepte der Psychoanalyse sind Übertragung und Projektion. Beide haben großen Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen und sind auch im pädagogischen Kontext bedeutsam. Das Verständnis dieser psychischen Prozesse kann dir helfen, die Ursache für Unterrichtsstörungen zu erkennen und aufzulösen, um eine förderliche Lernumgebung für die ganze Klasse zu schaffen.
Übertragung und Gegenübertragung
Übertragung ist die Wiederholung von Beziehungserfahrungen aus der Vergangenheit – meist noch aus der Kindheit.
Diese Beziehungserfahrungen und -wünsche von damals richten sich nun an eine Person aus der Gegenwart, z. B. an die LehrKraft. Das heißt, immer wenn du jemanden triffst, schreibst du ihm eine Bedeutung zu. Und welche das ist, hat mit deinen unverarbeiteten Erfahrungen aus der Vergangenheit zu tun. Das können gute und schlechte Erfahrungen sein.
Bei diesem intrapsychischen Vorgang – der heißt so, weil er sich erst mal nur innerhalb deiner eigenen Psyche abspielt – wird das Gegenüber – in unserem Fall die LehrKraft- mit einer wichtigen Person aus der Vergangenheit sozusagen „verwechselt“.
Man sagt auch, dass die Beziehungserfahrungen von damals im Hier und Jetzt „reinszeniert„ werden. Handelt es sich um eine positive Übertragung – z.B. die der fürsorglichen Mutter – wird die Beziehung zwischen Kind und LehrKraft wahrscheinlich recht harmonisch verlaufen. Wird jedoch die Person der strafenden oder zurückweisenden Mutter auf die LehrKraft übertragen, kann es zu Konflikten kommen.
Das Kind versucht dann, die LehrKraft zu einer Rollenübernahme zu drängen, die seinen unbewussten Bedürfnissen entspricht, also zu Reaktionen, die es schon kennt.
Und das funktioniert so gut, weil die Übertragung des Kindes wiederum Einfluss auf die unbewussten Gefühle der LehrKraft hat und es zu einer entsprechenden Antwort kommt – einer so genannten Gegenübertragungsreaktion.
Diese können auch ganz unterschiedlich sein und haben wiederum mit den früheren Erfahrungen der LehrKraft zu tun. Sie sind auch verantwortlich für so scheinbar unerklärliche Bedürfnisse, wie z.B. zu manchen Kindern besonders streng sein oder andere unbedingt vor Misserfolgen schützen zu wollen.
In diesem unbewussten Prozess liegt eine häufige Ursache von Unterrichtsstörungen. Um diese aufzulösen ist es wichtig, dass du als LehrKraft um diese Prozesse weißt.
Hier könnt ihr das Video dazu anschauen:
Projektion
Während sich die LehrKraft im Falle der Übertragung unbewusst mit dem Übertragungsobjekt identifiziert und so selbst zum traumatisierenden Objekt werden kann, verhält es sich bei der Projektion etwas anders: Es werden nicht die Objektanteile, sondern die eigenen Anteile der ursprünglichen traumatischen Situation bei der LehrKraft mobilisiert. Die LehrKraft wird dazu gebracht, entsprechend der Projektionen zu erleben und sich zu verhalten.
Diesen Rollentausch inszenieren häufig sogenannte hochaggressive Kinder, wenn sie andere hemmungslos schlagen und die LehrKräfte in einen ohnmächtigen, hilflosen Zustand versetzten. Die LehrKraft gerät in die Rolle des traumatisierten Kindes und übernimmt in einer Stellvertreterfunktion die Wirklichkeit der traumatischen Erfahrung. Dadurch muss das Kind sie nicht erneut durchleben und kann auf eine LehrKraft als Interaktionspartner hoffen, die sich aus der traumatischen Situation befreien kann. Die LehrKraft kann den Teufelskreis durchbrechen und das Trauma stellvertretend bearbeiten.
Aber macht es das Wissen um die Ursachen für Unterrichtsstörungen jetzt besser? Ich finde, ja!
Ich kenne die Ursache für Unterrichtsstörungen – und jetzt?
Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen von uns LehrKräften, dass wir uns mit störendem oder sogar aggressivem Verhalten von Schüler:innen auseinandersetzen müssen. Bei einigen Kindern helfen gute Klassenregeln, eine konstruktive Elternarbeit, ein Verstärkerplan oder wenn es hart kommt, eben die Ordnungsmaßnahmen…
Aber dann gibt es immer wieder Kinder die dich durch andauernde Unterrichtsstörungen an den Rand der Verzweiflung bringen, du hast das Gefühl, du kommst nicht weiter…
Und genau bei der Arbeit mit diesen Kindern kommt die Psychoanalytische Pädagogik und ihr tiefgehendes Verständnis für die Ursachen von Unterrichtsstörungen ins Spiel:
Denn die Deutung des unerwünschten Verhaltens aus einer psychoanalytischen Haltung heraus verhilft dir zu neuen Spielräumen in der Interaktion mit dem Kind. Es ist kein Zufall, dass du mit bestimmten Schüler:innen immer wieder in konflikthafte Situationen gerätst. Aber wenn es kein Zufall ist, dann bist du diesem Konflikt auch nicht ohnmächtig ausgeliefert! Du kannst was verändern und auch zu deinen schwierigen Schüler:innen eine gute Beziehung aufbauen.
Für alle Lehrer:innen ist es also sehr hilfreich, um die unbewussten Prozesse im Klassenzimmer zu wissen und zu verstehen, dass entscheidende Faktoren des Erlebens und Handelns für das Kind nicht bewusst verfügbar und somit auch nicht steuer- und kontrollierbar sind. Es kann sein Verhalten in manchen Situationen nicht ändern!
Besonders destruktiv sind die nicht durchschauten Konfliktbeziehungen zu bestimmen Schüler:innen. Wenn du die Psychodynamik der Schüler:innen und auch deine eigenen Anteile nicht kennst, kannst du auf das unproduktive Beziehungsangebot des Kindes nur reagieren, du agierst aber nicht mehr mit!
Genauso wichtig ist in der Konfliktdynamik mit dem Kind die eigenen unbewusst handlungsleitenden Anteile zu erkennen, denn nur dann kann ich das konflikthafte Interaktionsverhalten durchbrechen.
In der Anerkennung der eigenen Anteile liegt der erste Schritt zu einem professionellen, konstruktiven und nicht zuletzt angenehmeren Umgang mit dem Gegenüber.
Weil das nicht immer einfach – und alleine für sich sogar fast unmöglich – ist, ist regelmäßige Selbstreflexion wichtig.
Die Kraft der Selbstreflexion
Fast wichtiger als das theoretische Wissen ist die psychoanalytisch verstehende Haltung! Diese Haltung kannst du durch regelmäßige Selbstreflexion entwickeln.
Hierfür kann man z.B. Balintgruppen besuchen. Das ist eine psychoanalytische Form der Supervision. Neben der Problematik, die die Schüler:innen mitbringen, steht hier auch die Selbstreflexion der Eigenanteile und der eigenen Deutungsmuster im Vordergrund. Wenn du die erkennst, kannst du die Wahrscheinlichkeit eines destruktiven Mitagierens verringern.
Auch ganzheitliches Coaching kann dir dabei helfen, deine eigenen inneren Anteile kennenzulernen, indem es einen sicheren Raum bietet, in dem Selbstreflexion, Bewusstwerdung und Integration stattfinden können. Durch gezielte Fragen, Übungen und Techniken werden verschiedene Aspekte deiner Persönlichkeit, wie Gefühle, Überzeugungen und Verhaltensmuster, erforscht und ein tieferes Verständnis für deine eigene innere Dynamik entwickelt. Dies ermöglicht dir, verborgene oder verdrängte Anteile ans Licht zu bringen, sie anzuerkennen und in Einklang mit ihnen zu kommen. Darüber hinaus kann ganzheitliches Coaching auch dazu beitragen, deine Leidenschaft und Freude an deinem Beruf (wieder) zu finden und zu bewahren.
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Psychoanalytische Pädagogik: Eine alternative Perspektive auf die Ursache von Unterrichtsstörungen
Die psychoanalytische Pädagogik bietet dir einen tiefgehenden Blick auf die Ursachen von Unterrichtsstörungen. Gerade in der Arbeit mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen kann das hilfreich für dich sein: Nicht nur das (störende) Verhalten muss im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern auch seine Bedeutung. Du weißt jetzt, dass die Konflikte des Kindes von seinem Unbewussten gesteuert werden. Entscheidende Bedingungsfaktoren des Erlebens und Handelns sind nicht bewusst verfügbar und damit für das Kind auch nicht lenk- und kontrollierbar. Das Kind kann also in vielen Situationen nicht anders handeln. Anstatt ausschließlich auf Verhaltenstrainings und schulische Interventionen zu bauen, kannst du dich nun auf die zugrunde liegende psychologische Dynamik, die das Verhalten der Schüler:innen beeinflusst, konzentrieren.
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